Ich träumte heute nacht von einem Restaurant im Paris der 1780er Jahre, von dem ich nur den Namen hörte, austere, wie `streng´ im Französischen; es war jedoch von einem deutschen Koch und Philosophen gegründet worden und bot unter anderem Austern in allerlei Zubereitungsarten an, so daß es ursprünglich wohl `Die Auster´ von ihm genannt worden sein mag. Es war gewiss eines der besten und daher teuersten Restaurants in der Stadt und wurde vornehmlich vom Adel frequentiert, aber man traf dort auch bürgerliche Intellektuelle und Journalisten, deren Diskussionen oft auf alle Anwesenden übergriffen und die Gemüter entzündeten und inspirierten. Die Einrichtung zweier unterschiedlich hoher Räume, die durch eine Treppe voneinander getrennt waren, unterschied sich nicht von x-beliebigen Kaschemmen in den Arbeitervorstädten. Mobilar und Geschirr waren roh, das Personal derb, oft unhöflich und jedenfalls alles andere als unterwürfig. Der obere Raum diente oft als Bühne oder Rednertribüne.
Nicht selten gab es `geschlossene Gesellschaften´ in diesem Lokal. Das bedeutete, daß ganze Strassenzüge rings um die `Auster´ gesperrt wurden, um nur einige wenige dunkel verhangene Kutschen durchzulassen. Der Hochadel, welcher inkognito zu bleiben wünschte und ebenso ein gewisses Sicherheitsbedürfnis empfand, wünschte, anders als bei Hofe, auf das Spitzfindigste unterhalten zu werden. Das Restaurant galt als Geheimtip für gelungene Abende. Und es kam vor, daß die Königin Marie Antoinette selbst, meist begleitet von ihrer Vertrauten, der Prinzessin Lamballe, an solchen Gesellschaften teilnahm. Dabei war es, trotz aller polizeilichen Vorkehrungen und Abschirmungen, für die Stimmung natürlich absolut wesentlich, den Eindruck der Zufälligkeit zu erzeugen, so als befände man sich in einer gewöhnlichen Literatenkneipe. Verantwortlich für diesen Eindruck war ein gewisser Liotard, der geschickt dafür Sorge trug, daß sich etwa stadtbekannte Bohèmiens – gegen gute Bezahlung – in der `Auster´ blicken ließen, an den Debatten teilnahmen, gelegentlich auch Händel und Raufereien anfingen und das Adelspublikum etwas aufmischten. Dem war wiederum eingeschärft worden, das Ganze als Schauspiel zu betrachten und sich nicht unnötig provozieren zu lassen. Liotard lud auch die besten und redegewandesten Geister Frankreichs zu diesen Soireen, die Gelegenheit bekamen, sich in Vorproben über revolutionäre Ausfälligkeiten, Beleidigungen und deren Erwiderungen, `das letzte Wort´ in einer Streitigkeit und dergleichen mehr zu beraten. Er war ein solcher Meister seiner Kunst, daß die Königin stets entzückt über ihre Aufenthalte in der `Auster´ war und nur mit Mühe dazu bewogen werden konnte, diese auf das Allernotwendigste zu beschränken.
Nun hatte Liotard eine Schwester, Blanche mit Vornamen, eine etwas exzentrische Dame Anfang Dreißig mit länglichem Gesicht, die durch die ungewohnt orangene Färbung ihrer ansonsten nach der neuesten Mode frisierten Haare auffiel. Die neueste Mode, das hieß `zurück zur Natur´: sie wirkte etwa so natürlich oder täuschend echt wie die Debatten und Kontroversen in der `Auster´. Blanche, die erst unlängst eine Liebschaft mit dem Arzt Dr. Guillotin begonnen (und von dessen Plänen einer Enthauptungsmaschine, falls er sie ihr gegenüber jemals erwähnte, keine Ahnung) hatte, stand gewissermaßen im Zenit der so sorgsam eingefädelten `geschlossenen Gesellschaften´…
(und hier verlassen wir diese Geschichte, um sie vielleicht bei Interesse gelegentlich wieder aufzugreifen).