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Channel: Frank T. Zumbachs Mysterious World
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Roger Caillois: Die Geburt Luzifers

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Die folgenreichste psychologische Erscheinung des frühen 19. Jahrhunderts war die Entstehung und Ausbreitung des poetischen Satanismus und die Tatsache, daß der Schriftsteller eine starke Affinität zum Teufel verspürte und sich bereitwillig auf seine Seite schlug. So gesehen erscheint der Romantizismus teilweise als eine Umwandlung von Werten. Der Künstler erkannte im Laufe des 18. Jahrhunderts und ganz plötzlich nach der Französischen Revolution, daß er von der sozialen Organisationsstruktur ausgeschlossen war. Bis dahin hatte er seinen festumrissenen und von ihm selbst nie in Frage gestellten Platz innerhalb der Gesellschaft gehabt: Da der König und die Mächtigen des Landes seinen Lebensunterhalt sicherten, konnte er sich, jenseits aller materiellen Nöte, ganz seiner Arbeit widmen, deren einziges Ziel ihre Vollendung war. Keinen Gedanken verwandte er auf den täglichen Überlebenskampf, von dem er nicht einmal eine Vorstellung hatte. Als aber die Trennung von der gesellschaftlichen Struktur vollzogen und der Schriftsteller plötzlich ganz auf sich gestellt war, erlebte er zum ersten Mal, was es bedeutete, von Sorgen erfüllt und nicht gebunden zu sein, Angst zu verspüren und stolz darauf zu sein, daß er isoliert oder, wie er es formulierte, unverstanden war. In der Konfrontation mit den Problemen wuchs nun auch sein Ehrgeiz, sie zu lösen. Da er keinen bestimmten, von der Gesellschaft anerkannten Platz mehr hatte, beanspruchte er sie alle, jedoch im Grunde ohne die Absicht, einen bestimmten von ihnen einzunehmen und sich dort zu einem Experten zu entwickeln. Er verzichtete auf das Recht, eine Weltanschauung zu vertreten, eine Aufgabe, die er erst als die Seine zu betrachten angefangen hatte, denn er glaubte, daß er überall Stellung beziehen und nötigenfalls auch Verantwortung zu übernehmen hatte. Schon schwang er sich zum Nebenbuhler der Mächtigen auf, wobei er Gefahr lief, sich ihren Zorn zuzuziehen: Er empfand sie bereits als einengende Gewalt.

Damit war der Intellektuelle geboren, ein bis dato nicht vorstellbarer Menschentyp, der Unparteilichkeit in seiner Arbeit anstrebte, es aber nicht verschmähte, dem Volk auf dem Marktplatz zuzuhören, der die Folgen der Ungerechtigkeiten in der Welt am eigenen Leib erfuhr und im Namen des Geistes von einem verantwortlichen Ideal Rechenschaft über sie verlangte. Kunst hatte bis zu diesem Wendepunkt den Zweck erfüllt, auf ganz besondere Weise endgültig zu sein; tatsächlich stellte sie von diesem Augenblick an keine sich selbst genügende Tätigkeit mehr dar. In der Geistesgeschichte entbrannte eine heftige Auseinandersetzung, die bis heute noch keine befriedigende Lösung erfahren hat, und seit dieser Zeit sind die Beziehungen zwischen Mensch und Gesellschaft durch eine verhängnisvolle Unbeständigkeit gekennzeichnet, die gegenwärtig alles andere in diesen Bereichen überschattet.

Folgerichtig unterzog sich der Schriftsteller einer Selbstprüfung, bei der es um seine Person wie auch um das Leben überhaupt ging. Er nahm die Aufgaben des Priesters, des Philosophen und des Gesetzgebers für sich in Anspruch und versuchte, auch noch die des Politikers und des Mannes der Tat an sich zu reißen. Das Individuum als absoluter und unumstößlicher Mittelpunkt – das war Ausgangspunkt und Hauptantriebsmoment des Satanismus, der nach der Umgestaltung der europäischen Gesellschaft durch das Gedankengut der Französischen Revolution und die Napoleonischen Kriege die Zielsetzungen einer Generation bestimmte, die, nachdem sie zunächst maßlose Ambitionen gehegt und die Spur einer Möglichkeit zu ihrer Befriedigung erblickt hatte, schon bald auf unvorhergesehene Hindernisse stieß, die unannehmbar und entmutigend waren. Die heraufdämmernde Vorstellung von titanischer Macht war nicht das theoretische Konzept einer isolierten Gruppe, sondern eine echte kollektive Kraft auf der Suche nach einem Bild, das dieses sehnsüchtige, gemeinsam erlebte Verlangen in eine Form bringen und aufwerten könnte, ein Bild, das gleichermaßen Symbol, Provokation und Beispiel sein sollte. Es dauerte nicht lange, bis die ins Göttliche weisende Projektion der menschlichen Wünsche in einer Satansmythologie endete. Von Lord Byron bis zu Alfred de Vigny war bald die Figur des Teufels entworfen, eines Wesens von bester Gesinnung, voller Mitleid, Menschenfreundlichkeit und Gerechtigkeitsliebe, der Beschützer der Schwachen und geborene Freind jeglicher Macht, von Verachtung für jedes Dogma und jede Ethik erfüllt, der für anarchische Wunschträume zuständige Abgesandte Gottes, der, ohne jede Erwartung an die Gesellschaft, auch nicht die Absicht hatte, ihr seine Unabhängigkeit oder seinen unmäßigen und unheilvollen Einfluß zu opfern.

Aber die Medaille hat natürlich auch ihre Kehrseite. Man darf nicht vergessen, daß diese Idealfigur nur eine kompensatorische Vorstellung ist, die der unterdrückte, nicht zur Anpassung fähige, ängstliche Mensch, um sich über seine eigene Mittelmäßigkeit hinwegzutrösten, mit Erhabenheit ausstattet und auf die er eine im Verhältnis zu seiner eigenen Schwäche und Unentschlossenheit trügerische Macht und Kühnheit überträgt.

So ist es auch bezeichnend, daß die Haltung dieses Rebellen rein defensiv bleibt. Von Gott unterworfen, aber nicht überzeugt, hält er fest an der undankbaren Rolle „einer Seele, die es wagt, ihre Unsterblichkeit aufzubrauchen“ und die, während sie noch immer den Jammer in der Welt und die Ungerechtigkeit des Schöpfers anprangert, verzweifelt einen Antagonismus zwischen Recht und Stärke aufstellt.

Unter diesen Umständen erscheint Satanismus in erster Linie als eine instinktive und mutige, aber nicht organisierte Revolte gegen die Existenz des Übels und gegen die bestehenden Mächte. Als ein Aufstand des Gefühls ist der Satanismus voller Argwohn gegen die Intelligenz, in der er so etwas wie unerträgliche Ketten zu entdecken glaubt. Jede Art von Lehrzeit erscheint ihm wie Sklaverei und jedes fortdauernde Bemühen wie die Inbesitznahme der Freiheit. Stolz und erbärmlich breitet Satan, der auf der finsteren Seite der Natur Zuflucht sicht, die zerrissenen Flügel einer vom Licht aufgescheuchten Fledermaus aus. In ähnlicher Weise scheinen seine Anhänger die Rechte des Individuums nur aus der Verzweiflung heraus zu fordern, daß sie sie nie werden ausüben können. Ihr Hochmut ist nichts als eine armselige Maske für ihre Hilflosigkeit, ihre Verwirrung und ihren Mangel an Wirklichkeitsnähe.

Die weniger leicht Zufriedenzustellenden zeigen nun langsam eine gewisse Unduldsamkeit gegenüber diesen nutzlosen Gegenanklagen.

Man denke an die unbeugsame Energie von Corneilles Helden oder an die wohlüberlegte Verstocktheit von Montesquieus Sylla. Balzac hegte Bewunderung für die Gesellschaft Jesu und schrieb ihre Geschichte. Als Kind träumte Baudelaire davon, Papst zu werden, ein `Militärpapst´ allerdings. Der luziferische Geist ist geboren.

Satans Nachfolger, Luzifer, tritt von keinem der Ansprüche seines Vorgängers zurück. Er verzichtet jedoch darauf, gegen jene vorzugehen, die verflucht oder die unschuldige Opfer ihrer Gerechtigkeitsliebe sind. Er läßt sich darauf ein, daß die Stärke das Gesetz des Lebens ist, macht sich mit den Spielregeln vertraut und wird durch die Befolgung dieser Regeln zu einem Gegner, der um so gefährlicher ist, als er eine geringere Angriffsfläche bietet. Als einer, der präzise berechnet und erobert, glaubt er nicht, daß man sich schon mit der Revolte zufriedengeben darf, noch daß die Ausbrüche des Instinkts gewöhnlich zum Sieg führen. Sein scharfer Verstand, für ihn die hervorragendste und mächtigste aller Waffen, macht ihn zu einem vorurteilsfreien, gelegentlich zynischen Beobachter, der über die Realitäten ganz genau Buch führen kann.

Luzifers ungeteiltes Interesse gilt dem Möglichen, das er ohne Zögern in Angriff nimmt; er ist Satan, der Tatkräftige, der Intelligente und, in gewisser Hinsicht, der Mutige. Zwar hat er wie Satan einen natürlichen Hang zum Pessimismus und wurde ebenso wie er mit Nostalgie und Empörung genährt – die umso gefährlicher sind, als sie ja bereits eine Art Befriedigung darstellen. Aber mit Wilhelm, dem Schweigsamen, weiß er, daß man nicht unbedingt Hoffnung haben muß, um ein Unternehmen zu beginnen, und nicht unbedingt Erfolg, um es durchzuhalten. Mit der Entscheidung nicht unterzugehen, hat er zugleich die Entscheidung getroffen, siegreich zu sein und andere untergehen zu lassen.

Von der Leidenschaft zu seinen weit entfernten Zielen hingetrieben, berechnet er die Ziele des Tages mit klarem Blick, den er sich durch nichts und niemanden trüben läßt.

Die verschiedenen Mittel erahnt und berechnet er mit der Geduld und Exaktheit eines Mathematikers und den sparsamen Bewegungen eines Schachspielers und macht sie dadurch wirkungsvoll. Er wählt die sichersten und maßvollsten, aber auch die geheimsten oder unverschämtesten. Mit seiner zweckgerichteten Milde einerseits und der ihm wesenseigenen Verachtung andererseits verzeiht er nie, ohne seine Vorbehalte deutlich zu machen: Seine vorteilhafte Position ergibt sich gleichermaßen aus dem Verständnis, das er zeigt, wie aus der Geringschätzigkeit, die er zum Ausdruck bringt. Auch durch die Möglichkeiten, die er anderen einräumt, und durch jene, die er sich selbst verweigert, schafft er Unruhe: Er baut das Prinzip seiner Autorität auf einer ganz eigentümlichen Strenge auf. Das Bestreben, kein Sklave zu sein, weckt in ihm den Wunsch, Herr zu sein, und die Neigung zum Ungehorsam zieht die zum Befehlen nach sich, wobei Wirkung und Notwendigkeit des Gehorsams ihm nicht fremd sind. Da er fest genug an seine Rebellion glaubt, um eine künftige Weltordnung darin zu sehen, duldet er von keiner Seite eine Disziplinlosigkeit, die diese Rebellion schwächen könnte. So findet sich der Herrschaftsgedanke in seinem ganzen Ausmaß in diesem eigensinnigen Wüstling.

Genaugenommen liegt der luziferische Geist, die Macht der Finsternis, die im Licht wütet, gerade in dieser Komplexität. Vielleicht hätte es niemand für möglich gehalten, daß methodische Leidenschaft gefährlicher ist als hitzige Leidenschaft. Luzifer macht die Tragweite dieses Irrtums deutlich und erscheint mehr denn je als Morgenstern in der Dämmerung.

 

(Aus Riten der Selbstauflösung, herausgegeben von Verena von der Heyden-Rynsch, Matthes & Seitz Verlag, München 1982)



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