Ich war noch verdammt jung, als mir eines Abends ein böser Verwandter diese Geschichte vor dem Einschlafen vorlas. Ich habe mich damals, in meinem zarten Alter, wahnsinnig gefürchtet. Ob wohl das `Kindmännlein´ heute noch so wirken kann – auf zarte Gemüter?
`Tausend Kinderherzen wollte der Affe Bimb für das Lebenstränklein haben, dann konnte er ewig leben. Die Öfen des Zauberers sollten Tag und Nacht die schönsten Geschmeide, Rubine und Goldstücke backen. Lachend warf er den schlichten Ring fort, den ihm einst der alte Affenkönig schenkte, und trat ihn mit den Füßen. Statt dessen nahm er fünf andere aus seinen Öfen, die kostbarer waren, und setzte sie auf. Das blinkte und blitzte.
(…) Und die zwölf Männer, deren Knochen grünlich im Schloßkeller leuchteten? Die waren tot! (…) Tausend Kinderherzen – -
Die mußte er haben! Wie sollte er es anfangen, sie zu bekommen? Nun, das war ein einfaches Rezept. Schwupp, zugefaßt, wenn irgendwo eins ungezogen war.
Durch einen Zauber erweckte er aus einem Stein deshalb ein Kind. Seine Händlein waren kalt wie Eis. Um den Hals trug es ein Kettlein aus reifen, roten Johannisbeeren. Es war ein Kind wie jedes andere, und doch ein Männlein zugleich. Ein Herz hauchte er ihm nicht ein, denn es sollte herzlos und so kalt wie seine Hände sein.
Dieses Kindmännlein sandte er jeden Tag in das Land eines Königs, an dessen mächtiges Reich sein Schloß grenzte. Und jeden Tag brachte es ihm ein Kind – -
Dieses Königreich, es mochte wohl zehn Meilen hinter dem Golfstrom liegen, geriet dadurch in große Not.
Eines Tages ließ der König durch seinen Hofmarschall verkünden, daß alle Kinder seines Reiches gezählt werden sollten. Herolde ritten durch das Land, silbern blitzten ihre Gewänder, und in den goldbestickten Wappenfahnen brach sich das glitzernde Licht der Sonne. Als dann die Zählung vorüber war, erschrak der König zu Tode. Nur zweihundert Kinder zählte sein Reich noch?
Der Hofmarschall sah die Ungnade im Antlitz seines geliebten Königs und erschrak.
Nur zweihundert Kinder?
Der König fuhr ihn heftig an: „Das sollen alle Kinder meines Reiches sein? Zum Henker, ich werde Offnung schaffen!“
Er ließ den Polizeiminister des Landes rufen.
„Ihr habt mich rufen lassen, Eure Majestät?“ fragte dieser und verneigte sich tief.
„Jawohl, Herr Minister,“ entgegnete der König. „Doch ehe ich auf die fürchterlichen Dinge eingehe, frage ich Euch: Wieviel Kinder mag mein Reich in dieser Zeit zählen?“
Der Polizeiminister wurde ängstlich, sagte, daß er genaue Zahlen nicht wisse, aber – -
Dieses Wort – aber – brachte den König in hellen Zorn.
„Nennt mir die Zahl, oder Ihr seid aus meinen Diensten entlassen!“ rief er so laut, daß selbst die Pagen vor den Türen erschraken. Da bequemte sich der Polizeiminister zu einer Antwort und sagte leise: „ Es – – mögen ihrer – – zweihundert sein.“
„Zweihundert meint auch Ihr?!“ rief der König entsetzt. „Ganze zweihundert Kinder! Mein Reich zählt sechsmal tausend Menschen, und nur zweihundert davon sollen Kinder sein?“
„Ich beobachte es mit banger Sorge,“ fuhr der Polizeiminister fort.
„So, mit banger Sorge!“ schrie der König. „Und dann wird mir nichts davon vermeldet? Wer ist schuldig daran? Wie kommt es, daß so viele Kinder verlorengehen? – – Ihr seid es, weil Ihr Euch bequem in den Sessel setzt! Ihr seid aus meinen Diensten entlassen, damit basta!“
Trübselig machte sich der Polizeiminister von hinnen. Verschlafen gähnte er. Dann ließ er sein Pferd satteln, nahm all sein Geld und zog in ein anderes Land, denn er fürchtete sich vor dem Zorn des Königs.
Als der Polizeiminister gegangen war, sagte der König zu seinem Hofmarschall: „Wir werden uns nun um die Sache kümmern müssen, denn ich fürchte, daß die Bosheit eines feindseligen Zauberers hinter dem Treiben steckt.“
Und an demselben Tage ward noch kundgetan, daß der König mit seinem Marschall eine weite Reise in ein fremdes Land angetreten habe. Er blieb aber im eigenen Lande, kleidete sich ärmlich und suchte nach dem teuflischen Zauberer, der ihn unglücklich machte.
Zwei Tage mochten vergangen sein, als zwei ärmlich gekleidete Männer, der König und sein Hofmarschall, spätabends an das Haustor eines Bauern klopften, der, obwohl ein Greis von siebzig Jahren, noch recht rüstig war. Der späte Besuch war ihm nicht angenehm. „Ich bin kein Wirt!“ brummte er unwillig. „Ich kenne nichts wie meine Arbeit und kann keine Faulenzer in meinem Hause dulden. Wenn ihr morgen wieder davonzieht, mag es zur Not gehen.“
„Aus Euren Worten spricht ein hartes Herz,“ erwiderte der König.
„Hart?“ stieß der Alte hervor. „Ihr mögt recht haben, denn ich liebe die Menschen nicht, insbesondere aber Kinder.“
„Warum könnt Ihr Kinder nicht leiden?“ entgegnete der König verwundert und setzte sich, als sie der Alte mit einer Handbewegung dazu aufforderte. Da rückte der Alte das Licht ganz in die Nähe der beiden Männer, schaute sie groß an und fragte geheimnisvoll: „Könnt Ihr schweigen?“
Diese sonderbare Frage schien dem König ein Teil des Geheimnisses zu sein, das er lösen wollte, und er bejahte eifrig.
Da ging der Bauer an die Tür, sah nach, daß sie verriegelt war, verdeckte das Fenster, setzte sich dicht neben den König und flüsterte: „Kennt Ihr das Kindmännlein?“
Wahrheitsgemäß verneinten die späten Besucher. Da nahm der Alte die Stengel zauberischer Schafgarbe, legte sie wirr auseinander, so daß sie die Ohren eines Zauberers hinderten, zu lauschen. Dann sagte er: „Es war an einem bösen Herbstabend, als vor der Tür meines Hofes ein Kindlein von acht Jahren stand und bitterlich weinte. Ich trat mitleidig hinaus, faßte es an der Hand, schaute in seine Augen und fragte es, woher es komme und wohin es wolle. Seine Händlein waren kalt wie Eis, und als Halsschmuck trug es eine Kette aus reifen roten Johannisbeeren. Das war sonderbar. Auf meine Fragen antwortete es nicht. Mir schien es, als ob es sich verlaufen hätte. So nahm ich es bei mir auf, denn meine Tochter hatte ein Kind, das sechs Jahre alt und oft unartig war. Es konnte nichts schaden, wenn es einen Gespielen bekam.
Meine Frau kleidete das armselige Knäblein und tat ihm all´ die Liebe an, derer es bedurfte. Wir freuten uns, Gutes tun zu können.“
Dann machte der Alte eine lange Pause, so daß es den König fast verwunderte, und fuhr tiefatmend fort: „Am and´ren Morgen, als wir erwachten, war das fremde Kind fort – – und mit ihm mein Tochterkind – -
Großes Weinen und Wehklagen hub im Hause an. Unser Enkelkind fort? War dieses fremde Kind ein Todesengel?“
Dann, ein paar Tage darauf, kam mein Nachbar. Das gleiche war ihm widerfahren.
Rings um uns wuchs mit jedem Tage die Zahl der weinenden Eltern. Es wurde erzählt, daß der, der über diese Dinge beim König zu plaudern wage, sterben müsse. Sah deshalb irgend jemand ein Kind, dann floh er davon.
Dieser furchtbare Zustand dauert bis auf den heutigen Tag, und es hat noch keiner gewagt, dem König davon zu berichten. Kinder sieht man nicht mehr – „, er ächzte, „und in einer Reihe von Jahren dürfte das Land ausgestorben sein.“
Ganz nahe kam er dem Ohre des Königs und flüsterte: „Man nennt dieses schreckliche Kind mit den kalten Händen und der Johannisbeerenkette – – das Kindmännlein – -“