Nicht weniger gefürchtet waren die eigentlichen Hexen, die oft in Abwesenheit der Eltern in die Häuser eindrangen und kleine Kinder zu Krüppeln machten. Daher wohl auch der italienische Name Strega (von griechisch-lateinisch striga, aus strix), bei den Alten ein sagenhafter Nachtvogel, der den Kindern, wie auch der Vampir, in der Wiege das Blut aussaugte und dafür Gift einflößte. Andererseits zeigten sich die Hexen dankbar, wenn man ihnen Gutes erwies, oder harmlos, wenn man sie in Ruhe ließ und namentlich in ihren nächtlichen Vergnügungsfahrten nicht störte; feindlich und rachsüchtig bloß, wenn man sie mißhandelte und verfolgte. Sie setzten sich gern auf Nußbäume, die darum gemieden werden. Früher hauste wohl manche Strega auch in Capri, jetzt – abgesehen von einem sogenannten feinen Likör – angeblich nur noch in den benachbarten Gegenden, besonders in Sizilien, von wo sie, durch die Luft fliegend (daher auch »Inaria« genannt), oft in großen Scharen nach den nördlichen Inseln Ischia und Procida zogen, mehr aber nach dem Festlande, besonders Benevento, dem ursprünglichen Maleventum, das für Italien eine Art Blocksberg zu bedeuten scheint, zumal seine fruchtbaren Berghänge reich an großen sagenberühmten Nußbäumen sind, deren im Lande sehr begehrte Früchte vielfach drei Nähte zeigen.
Man kann die »Inaria« zum Herniedersteigen zwingen, wenn man laut ruft: »Verbbun cale fatt’ mest«. Diese geheimnisvoll klingenden Worte sind offenbar nur verderbtes Meßlatein aus dem Anfang des Johannisevangeliums: »Verbum caro factum est«. Freilich büßen die Luftfahrenden beim Herniedersturz, der auch durch Glockengeläut beim Fliegen über eine Kirche verursacht werden kann, das Leben ein. Bekanntlich wurden die Glocken bei den deutschen Hexen »bellende Hunde« genannt.
Sopr’ acqua e sopra viento,
sopra a noce di Beneviento
(oder richtiger capresisch: »Minuviengo«)
riefen sie, wenn sie sich eingesalbt hatten und die Luftreise antraten. Besonders in der Johannisnacht, die unsere auf Capri unbeachtete Walpurgisnacht vertritt, hört man sie schreien und heulen. –
Andere Stregen waren weniger reise- als tanzlustig. Sie versammelten sich bei Mondschein zu nächtlichen Reigen auf irgendeinem »circolo« oder »aro«, das ist eigentlich eine runde Zementtenne im Freien. Nur ein »aro« am Wege zum Tiberio befindet sich jetzt noch in brauchbarem Zustande. Die anderen sind entweder mit Rasen überwachsen oder ganz verschwunden, ein Beweis, daß der Getreidebau, als eine Zeitlang der Weinbau darniederlag, viel stärker betrieben wurde als jetzt.
Tanzfeste dauerten oft ganze Nächte hindurch, woraus die Sage von tanzenden »Hexen« entstanden sein mag. Getanzt wurde außer Tarantella auch vielfach Tarscone, ein Tanz zu Vieren, der jetzt kaum noch bekannt ist. Der Name ist offenbar mundartlich verderbt aus »trescone«, ein sehr bewegter ländlicher Reigentanz, ähnlich dem Schuhplattler.
Außer den somit in mannigfacher Gestalt auftretenden Hexen, die aber als Menschen ihre Verwandlungskünste nur dem Teufel, ihrem Oberherrn, verdanken, gibt oder gab es nun aber auch noch allerlei in Menschen- und Tiergestalt erscheinende Vertreter der eigentlichen Geisterwelt und zwischen beiden ein unglückliches männliches Wechselwesen: den Werwolf (lupo mannaro), der früher oft in Capri erschien und vielleicht noch vorkommt. –
Diese unheimlichen Gesellen liefen gewöhnlich in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag als vierbeinige Geschöpfe durch die besonders engen und finsteren Straßen der Stadt, namentlich am alten Wege nach Anacapri und in den Seitengassen der Tiberiostraße. Dabei ängstigten sie die Vorübergehenden oder zerrissen ihnen die Kleider, aber nur, wenn die Betreffenden laut sprachen, nicht, wenn sie schweigend vorübergingen oder auf einem Sessel oder sonst erhöhtem Platze standen. Wollte man einen Werwolf wieder zum Menschen umwandeln, mußte man ihn mit einer langen, an einem Stabe befindlichen Nadel ins Rückgrat stechen. Offenbar führte aber der Glaube an den Werwolf auch zu allerlei nächtlichem Unfug, Betrug und Raub.
Ebenfalls auf einer Mittelstufe des Geisterreichs stehen die als Gespenster auftretenden Seelen der Toten, namentlich der eines unnatürlichen Todes Verstorbenen, deren unheimlich nächtliches Erscheinen gefürchtet wird. Sogar von Geistermessen und Geisterprozessionen (II, 27 und 28) weiß man zu erzählen, wie ja schon im klassischen Altertum und bei den Juden der Glaube verbreitet war, daß die Seele Ermordeter ruhelos umherschweifen müsse, bis der Verbrecher bestraft sei und der Tote ein »ehrliches« Begräbnis in geweihter Erde erhalten habe. –
Wohl noch vom Altertum her hat sich in Capri die Sage von den Sirenen erhalten. Ursprünglich wohnten sie nicht an der kleinen Marine von Capri, sondern an der Punta di Campanella, der Landspitze von Sorrent, wo ihnen in Massa Lubrense sogar ein Tempel errichtet worden war. Sie sangen so schön und fein, daß die Schiffer, wenn sie vorbeifuhren, bezaubert wurden und in Schlaf versanken. Dann begaben sich die Sirenen auf die Schiffe, um den Schlafenden das Blut auszusaugen.